Rezension zur Lesung von Bettina Wilpert
Groningen - Am 27. September fand an der Universität Groningen die erste Lesung vor Ort seit dem Beginn der Corona-Pandemie statt. Schriftstellerin Bettina Wilpert aus Leipzig las aus ihrem Debütroman Nichts, was uns passiert (2018). Das Buch handelt von sexueller Gewalt und stellt die Frage, wie eine aufgeklärte demokratische Gesellschaft damit umgeht. Die Geschichte findet während der Fußballmeisterschaft 2014 in Studentenstadt Leipzig statt. Nach einer Party von einem gemeinsamen Freund gehen Protagonistin Anna und Antagonist Jonas zusammen nach Hause. Was dabei passiert, wird nur indirekt erzählt. Anna meint, sie wurde in dieser Nacht von Jonas vergewaltigt, aber Jonas behauptet, es war einvernehmlicher Geschlechtsverkehr. Aussage steht gegen Aussage.

>> Vanaf hier verder lezen << Dass Lesen und Vorlesen komplett andere Erfahrungen sind, wurde bei der Lesung (wieder) deutlich. Das Buch wird aus einer anonymen Dritte-Person-Perspektive in einer Art Interviewform erzählt. Im Text wird ein gewisser Maß an Distanz eingehalten und der Erzähler scheint objektiv zu sein. Für die Autorin war es wichtig, dass die Leser*innen selber ein Urteil über die Ereignisse bilden. Als sie einige Ausschnitte vorgelesen hat, wurden die Erlebnisse aber zum Leben erweckt, sie wurden emotionaler und eindringlicher. Insbesondere die Szene auf der Polizeiwache (S. 78) war sehr konfrontierend.
Während der Lesung gab es ausreichend Zeit, Fragen zu stellen, Diskussionen zu führen und Leseerlebnisse auszutauschen. Eine der Fragen, die gestellt wurde, war: Hätte die Geschichte in einer anderen Stadt - oder vielleicht sogar in einem Dorf - spielen können? Für ihr Buch war es wichtig, dass der Handlungsort auf jeden Fall eine (mittel)grosse Stadt mit einer studentischen Atmosphäre war. Allerdings erkannte sie, dass sowas (leider) überall, in jeder Alters- und Bevölkerungsgruppe passieren könnte. Eine weitere Frage war, ob Wilpert bewusst mit der Herkunft der Charaktere gespielt hat. Anna kommt nämlich aus der Ukraine und Jonas kommt aus einem bürgerlichen deutschen Umfeld. Wilpert hat zustimmend geantwortet, denn auf diese Weise konnte sie zum Beispiel mit den kulturellen Mythen und Stereotypen über osteuropäische Frauen spielen.
Unserer Meinung nach ist der Roman sehr dafür geeignet, einen gesellschaftlichen Dialog über den Umgang mit sexueller Gewalt zu entfachen. Die rechtlichen Änderungen spielen dabei eine wichtige Rolle: Deutschland wurde erst 2016, also 2 Jahre nach der Handlungszeit des Romans, eine wichtige Änderung des Sexualstrafrechts durchgeführt. Vor dieser Reform sollte immer bewiesen werden, dass Gewalt verwendet wurde und dass man sich körperlich verteidigt hat. Nach der Gesetzesänderung reicht ein mündliches ‘Nein’ des Opfers und man ist strafbar, wenn man sich darüber hinwegsetzt.
Alles in Allem hat die Lesung auch diejenigen, die das Buch noch nicht gelesen haben, davon überzeugt, dass Nichts, was uns passiert definitiv lesenswert und empfehlenswert ist. Die Autorin hat bei der Lesung übrigens verraten, dass momentan auch an einer Verfilmung des Romans gearbeitet wird!
Laatst gewijzigd: | 15 juli 2024 11:00 |